Demo „Integration statt Abschiebung“ am 10.06.2017 in Nürnberg
Rede von Axel Schweiger von mut
Ich bin, wie die meisten von Euch einer der 6 Millionen Deutschen, die in der Flüchtlingshilfe aktiv sind. Wir haben uns engagiert, ihnen das Ankommen in Deutschland zu erleichtern, haben Feldbetten geschleppt und Schlafhallen eingerichtet, haben begonnen, Deutschunterricht zu geben, haben sie bei Behördengängen begleitet, haben sie für ihre Interviews vorbereitet und sind mit ihnen zum BamF gegangen, haben gehofft und erzählt, gute Integration ist der Schlüssel dafür, sich hier eine neue Existenz aufbauen zu können.
Und nun? Nun müssen wir miterleben, dass einer nach dem anderen einen ablehnenden Bescheid erhält. Dass unsere Schützlinge aufgefordert werden, Deutschland zu verlassen, dass man ihnen einzureden versucht, es wäre klüger, freiwillig wieder zurückzugehen.
Fassungslos lesen wir die Textbausteine in den Bescheiden des BamF, in denen es heißt, es gäbe sichere Orte in Afghanistan. Gebetsmühlenartig beten das auch die Politiker herunter. Nachfragen von Journalisten und Bürgern, wo die denn seien, werden ignoriert.
Warum? Ganz einfach: Es gibt keine sicheren Orte in Afghanistan.
Wir müssen auch miterleben, wie eine wild gewordene Staatsgewalt nun anfängt in großer Manier Menschen nach Afghanistan abzuschieben. Sogar welche, die hier mittlerweile tief verwurzelt sind, sich die Sprache angeeignet haben, einen Beruf erlernt und Freundschaften und Beziehungen aufgebaut haben. Sie kommen Nachts und holen sie aus den Betten und sie kommen tagsüber und holen sie von ihren Arbeitsplätzen. Wie Verbrecher werden diese Menschen, die meist seit sieben Jahren bei uns waren, abgeführt und inhaftiert und dabei besteht bei nahezu allen das einzige Verbrechen, das sie begangen haben, darin, dass sie am falschen Ort zu einer falschen Zeit geboren wurden. Und dabei reißt man auch denen Wunden in die Herzen, die sich unterstützend an ihre Seite gestellt haben. Die Flüchtlingshelfer, die Freundinnen und Freunde, auch Beziehungspartner bleiben fassungslos und meist auch selbst traumatisiert zurück. Und auch Pflegefamilien fragen sich, ob sie die nächsten sind, die um ihre Kinder bzw. Geschwister bangen müssen. Denn auch für mittlerweile volljährig gewordene Pflegekinder hagelt es Ablehnungsbescheide.
Gleichzeitig lesen wir, dass die Bundesregierung verlautbaren lässt, Verbrecher würden abgeschoben. Der brave Bürger nickt und sagt „Bravo“. Wir, die wir uns intensiv mit den Dingen, die tatsächlich geschehen, beschäftigen, wissen, dass das nicht stimmt. Nahezu keiner von denen, die abgeschoben wurden, sind tatsächlich straffällig geworden. Fast alle, die abgeschoben wurden, sprachen inzwischen gut deutsch, hatten Arbeit oder standen in Ausbildungsverhältnissen. Fast alle waren bereits seit vielen Jahren hier, hatten Beziehungen aufgebaut, waren im Begriff, Familien zu gründen. Fast alle waren Menschen, die dieses Land, das so reich an gesunden, agilen Alten und so arm an Jugend ist, gut hätte brauchen können.
Sie waren in Deutschland verwurzelt – sind es in Afghanistan nicht mehr. Viele haben dort keine Familie mehr, haben keine Chance, dort wieder Fuß zu fassen, umso mehr, als hier wie dort die Lügen der Bundesregierung greifen und alle glauben, sie seien zurückgeschickt worden, weil sie straffällig geworden seien. Sie verstecken sich in Zimmern, die Freunde aus Deutschland für sie angemietet haben, vegetieren vor sich hin, denn sie wissen, wenn sie es wagen, heraus zu gehen, ist ihr Leben in höchster Gefahr.
Einer von ihnen, wurde bereits gezielt von den Taliban durch eine Bombe zerfetzt. Dieses Blut klebt an Ihren Händen, Herr de Maiziere. Dieses Blut klebt auch an Ihren Händen, Herr Herrmann! Und es klebt aber auch an den Händen von Herrn Steinmeier, Herrn Gabriel und Herrn Kretschmann – den Mitläufern der Unmenschlichkeit.
Ich weiß, dass solche Vorhaltungen an den Regierenden abprallen. Ich weiß auch, dass große Teile der Bevölkerung Angst vor Veränderungen haben und Ausländern, insbesondere solchen, die Muslime sind, skeptisch gegenüber stehen. „Das Boot ist voll“, höre ich da immer wieder. Oder „Wir können doch nicht alle aufnehmen.“
Stimmt, wir können nicht alle aufnehmen. 65 Millionen Menschen sind derzeit weltweit auf der Flucht. Die wollen aber auch gar nicht alle zu uns! Im Jahr 2015 kamen 800.000 Flüchtlinge zu uns – das ist ein Prozent der Bevölkerung. Unter 100 Menschen ist also statistisch gesehen einer, der vor Not und Unglück, vor Krieg und Bedrohung bei uns um Aufnahme gebeten hat. Das ist mehr, als wir verkraften können? Sicher nicht!
In unserem Land werden zurzeit Jahr für Jahr rund 190.000 Menschen weniger geboren, als sterben. Würde die Lebenserwartung nicht massiv steigen, würden diese Zahlen noch erschreckender aussehen. Was bedeutet das aber? Die Alten werden rasant mehr und immer weniger Junge müssen die Renten für immer mehr Alte erwirtschaften, denn nach diesem Prinzip sind unsere Sozialversicherungssysteme aufgebaut. Hier entsteht ein gewaltiges Problem. Da die meisten Regierenden aber nicht den Mut haben, grundlegende Schritte zu tun, wurde das seit Jahren sichtbare Problem verschleppt. Das Rentenniveau wurde immer weiter abgesenkt und die Folge davon ist, dass wir nunmehr einen massenhaften Anstieg von Menschen in Altersarmut haben und in wenigen Jahren wird nicht einmal die Mittelschicht noch Renten bekommen, die ein Leben in Würde gestatten. Ich weiß, wovon ich rede, denn in meiner Arbeit für die Münchner Tafel habe ich tagein tagaus mit dem größer werdenden Heer armer, alter Menschen zu tun, die frustriert und böse sind, weil nach einem Leben voller Arbeit Armut auf sie wartet.
In dieser Situation müssten wir froh und dankbar sein, wenn junge, arbeitsfähige Menschen zu uns kommen wollen. Wir sollten sie herzlich begrüßen und wir alle müssten alles tun, ihnen den Einstieg in unsere Gesellschaft so angenehm wie möglich zu gestalten. Wir müssten alle helfen, sie zu integrieren, sie auszubilden, ihnen Zugang zu Bildungsmöglichkeiten zu verschaffen – denn sie können dazu beitragen, dass unser Wohlstand auch morgen noch trägt, dass unsere Alten in Würde alt werden können und unsere Jungen tragbare Lasten zu schultern haben.
Wenn wir von Integration sprechen, müssen wir „Integration“ aber auch neu definieren. Viel zu sehr haben wir uns unbewusst das Gerede von der “Leitkultur” aufdrängen lassen. Ich auch! Wir müssen Integration neu denken. Integration fängt mit Akzeptanz an, nicht mit Toleranz, also des gerade mal so Erduldens anderer Kulturen. Integration richtig verstanden ist ein Geben und Nehmen, ist verbunden mit Offenheit für das Verständnis des Gegenübers für seine Sprache, sein kulturelles Verständnis. Integration ist dann nicht das Verlangen des Unterordnens des Gegenübers in “meine” Kultur, sondern ein Prozess des Zusammenwachsens auf der Basis unseres Grundgesetzes. Und nur so wird Integration eine Bereicherung – für beide Seiten. Da ist unsere Gesellschaft anders aufgebaut als es die Staatsregierung in Bayern gerne hätte. Das müssen wir ändern – nämlich auf einer Begegnung auf Augenhöhe. Und das ist das, was die BerufsschülerInnen aller Nation hier in Nürnberg uns gezeigt haben!“
Und wenn wir über Integration sprechen, dann müssen wir auch Integrationshilfen anbieten, die die Menschen, die zu uns kommen, da abholen, wo sie stehen. Integrationshilfe muss individuell sein und muss auch dem Umstand Rechnung tragen, dass viele der Menschen, die zu uns kommen, traumatisiert und krank sind. Wir müssen auf die Menschen eingehen und sie fördern und plötzlich werden wir feststellen, dass wir viel voneinander lernen können. Burkhard Hose, der bekannte Studentenpfarrer aus Würzburg sagt: “Empathie ist klug!” Und er hat sehr recht damit!
Jetzt höre ich schon wieder viele, die sagen, wer soll denn das bezahlen? Die Kosten dafür hätten wir auch aufbringen müssen, wenn wir eigene Kinder in die Welt gesetzt hätten. Deren Erziehung und Ausbildung hätte wahrscheinlich mehr gekostet, als von erwachsenen oder heranwachsenden Menschen in unsere Gesellschaft.
Das sind Binsenweisheiten, aber Fakt ist: unsere Gesellschaft braucht den Zuzug von Menschen aus anderen Ländern. Fakt ist auch, dass wir einen erheblichen Anteil daran tragen, dass so viele Menschen auf der Flucht sind. Das liegt nicht nur, aber auch daran, dass wir die Welt mit unseren Waffen überschwemmen. Fakt ist, dass wir dazu beitragen, dass viele Länder destabilisiert werden, weil wir mit der Lieferung unserer hochsubventionierten Agrarprodukte deren eigene Wirtschaft zerstören. Wir reden viel von Umweltschutz und liefern gleichzeitig über tausende von Kilometer unsere billig gemachten Tiere aus Massentierhaltung in Länder Afrikas und verkaufen sie dort so billig, dass die Bauern dort ihre Existenzgrundlage verlieren. Wir subventionieren Gemüseanbau so stark, dass Agrarprodukte aus anderen Ländern so teuer sind, dass sie hier keine Absatzmärkte mehr finden und die Bauern in den Ländern der Dritten Welt auch dadurch ihre Existenzgrundlage verlieren. Wir liefern sogar unsere Altkleider nach Afrika und zerstören damit die Existenzgrundlage der Weber, der Schneider und viele anderer Berufe und damit sinkt der Lebensstandard dort immer weiter ab, bis diese Menschen dort keine Lebensgrundlage mehr haben, keine Zukunftsperspektiven mehr finden und sich auf einen langen und gefährlichen Weg durch Wüsten und über das Meer machen, um hier ein besseres Leben zu finden. Aber wir wollen sie nicht. Wenn wir das nicht wollen, müssen wir aufhören, die Dritte Welt auszubeuten. Wenn wir die Flüchtlinge hier nicht haben wollen, müssen wir aufhören, ihre Heimatländer mit Waffen zu überschwemmen.
Im Bild: Teilnehmende auf der Demonstration in Nürnberg am 10.06.2017
Auch das wissen hier sehr viele Menschen seit sehr langer Zeit. Auch das ist einer der Gründe, warum sich so viele Menschen in der Flüchtlingshilfe engagieren. Viele helfen aber auch einfach mit, weil sie helfen, wenn sie menschliches Leid sehen. Weil sie ein Gefühl dafür haben, was es heißt, aus der Heimat vertrieben zu werden; weil sie Mitleid mit Menschen haben, deren Häuser zerbombt wurden, deren Werkstätten und Firmen dem Erdboden gleich gemacht wurden; weil sie Mitleid haben, mit Menschen, die Angehörige im Krieg oder auf der Flucht verloren haben; weil sie Menschen helfen wollen, die jeden Tag um ihr Leben fürchten mussten. Deshalb engagieren sich in der Flüchtlingshilfe 6 Millionen Deutsche.
Und den meisten dieser sechs Millionen Menschen geht es wie mir, dass sie fassungslos zusehen, wie in diesem Land plötzlich Dinge geschehen, die wir alle vor ganz kurzer Zeit noch für völlig unmöglich gehalten haben. Fassungslos sehen wir, wie durch die Staatsgewalt Gesetze gebeugt und gebrochen werden. Fassungslos sehen wir, wie völlig unmenschliche Entscheidungen getroffen werden. Fassungslos sehen wir, wie in einem gebildeten, wohlhabenden Land plötzlich die braunen Ungeheuer aus den Löchern gekrochen kommen und plötzlich wieder straflos Rassenhass und Fremdenfeindlichkeit propagiert wird. Fassungslos sehen wir, wie plötzlich jeder Anstand und Moral verloren gehen. Fassungslos sehen wir, wie Menschen nachts aus ihren Betten gerissen werden, wie Menschen von ihren Arbeitsplätzen abgeholt werden und nun zuletzt sogar aus ihrem Schulunterricht herausgerissen werden, um für Abschiebungen abgeholt zu werden.
Hatten wir das in diesem Land nicht schon einmal?
Wir protestierten dagegen – doch kaum jemand hörte uns. Wir wurden immer wütender, doch kaum jemand nahm das wahr. Wir wurden immer trauriger, doch kaum jemand störte sich daran.
Doch nun haben uns Schüler aus Nürnberg gezeigt, dass es nicht genügt, zu protestieren, dass es niemandem hilft, wenn wir traurig und verzweifelt sind. Nein, wir müssen weiter gehen! Wir müssen aufstehen, wir müssen mit den Mitteln des friedlichen Widerstands kämpfen. Wir müssen uns schützend vor die uns Anvertrauten stellen. Wir müssen die Mittel des zivilen Ungehorsams nutzen und dann können wir unendlich viel erreichen. Wir sind 6 Millionen Menschen, wir haben große Macht, wenn wir uns solidarisieren, wenn wir laut sind und wenn wir zeigen, dass wir es nicht zulassen werden, dass die Gesellschaft ihre Menschlichkeit verliert und Unrecht zulässt.
Ich danke den mutigen Schülerinnen und Schülern von Nürnberg, dass sie uns gezeigt haben, wie viel schon wenige erreichen können, wenn sie mutig sind, wenn sie für ihre Überzeugungen eintreten und wenn sie sich zum Schutz ihrer Mitmenschen gegen das Unrecht erheben.
Wir, die Gutmenschen dieses Landes sind stark, wenn wir uns solidarisieren – das ist die Lehre von Nürnberg, wo die Staatsgewalt eine Linie überschritten und den Schutzraum der Schule gestört hat.
Abschließend möchte ich noch zu zwei Dingen Stellung nehmen, die mich in den letzten Tagen geärgert und bewegt haben. Das eine ist, dass sich eine Reihe von den im Bundestag vertretenen Parteien, die vorher fleißig mit abgeschoben haben als die gerieren, die den derzeit geltenden Abschiebestopp mit herbeigeführt haben. Weit gefehlt! Es waren nicht die Grünen und auch nicht die SPD, sondern es waren die Berufsschüler in Nürnberg und das Attentat in Kabul, die das in Bewegung gesetzt haben. Das Zweite, was mich unendlich geärgert hat, sind die Äußerungen der Mächtigen in diesem Land, die vor keiner Lüge zurückschrecken, um Aref und die mutigen Menschen, die es gewagt haben, sich hier gegen eine jede Angemessenheit vermissen lassende Staatsgewalt zu stellen. Herr Herrmann! Sie biegen und beugen das Recht und besitzen auch noch die Frechheit dann Lügen in die Welt zu setzen, um das Versagen der Behörden und Ihrer eigenen Unmenschlichkeit zu verdecken.
Sie, Herr Herrmann, haben den Boden unserer freiheitlichen Grundlagen verlassen und müssten nach Ihren eigenen Definitionen längst aus dem Staatsdienst entlassen werden.
Herr Herrmann, es ist Zeit wenigstens einmal etwas im Interesse des Landes zu tun: Treten Sie zurück!